ERSCHAFFEN: Herstellung und Aktivierung von Manufakten zur individuellen Unterstützung

Zum Wohle wandeln

1. Bist du bereit ein Opfer zu geben?

Kräuterräucherung
Odins Selbstopferung, Collingwood, 1908

Das Wort Opfer erfährt gegenwärtig eher eine negative Konnotation. Liegt es möglicherweise an den christlichen Ausformungen oder an allgemein falschen Vorstellungen?

Für unsere Vorfahren hatte die Opferung nämlich eine sehr tiefe Bedeutung. Das altnordische Wort für Opfer heißt blōt und kommt aus dem urgermanischen blōta. Das altnordische und germanische blōtan übersetzt sich mit „opfern“, aber auch „verehren“ und bedeutete laut Rudolf SIMEK „(die Gottheit) stärken“.1 2 3

Die „Gottheit stärken und verehren“ indem man sich bedankt für die Unterstützung, die uns Menschen immer wieder gegeben wird, ist ein schöner Gedanke. Eine kleine Votivgabe für all die vielen Gartenwesen wird der Ernte sicher zuträglich sein. Aber auch Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft und Empathie sind Indikatoren dafür, den Fluss des Lebens nicht zu unterbrechen. Ein bewusstes „Geben und Nehmen“ fördert das Miteinander und schafft Ausgleich. Gebe ich Gastfreundschaft, darf ich auch Gastfreundschaft nehmen.

Opferung versteht sich jedoch nicht nur anhand des „Geben und Nehmen“ Konzeptes mit einem Gegenüber, sondern auch mit dem eigenen Selbst. In einer Erzählung aus der Edda, eine Sammlung von Mythologien unserer nordeuropäischen Vorfahren, opfert der Schamanengott Óðinn sein Auge, an der Quelle des Riesen Mimir, in der „Klugheit und Verstand“ verbogen ist, um sehend zu werden.4 In einer anderen Erzählung hängt Óðinn sich neun Tage, selbst verletzt und hungernd, an den Weltenbaum Yggdrasil, um Wissen zu erlangen.5

Hávamál Vers 138
Ich weiß, das ich hing am windigen Baum
neun ganze Nächte,
vom Speer verwundet und Odin geopfert,
selber mir selbst,
an dem Baum, von dem niemand weiß,
aus welchen Wurzeln er wächst.

Ódinn gibt sich Ódinn hin, er gibt sich „Selbst“ hin, er opferte sich „selber mir selbst“. In den weiteren Strophen wird er in die geheimen Künste des seiðr (Zauber), galdr (Zauberlied) und spā (Prophezeiungen) eingeweiht, bis er am Ende eine neue spirituelle Ebene erreicht hat, welche ihn zum Weisen macht. Ódinn’s Selbstopferung, hängend am Baum, in Abgeschiedenheit und Schmerz, zeigt Ähnlichkeit zu anderen schamanischen Initiationsriten sibirischer oder nordamerikanischer indigener Völker.6

Vor dem Wandeln ist es essenziell, sich zu fragen, welchen Preis der Wandel hat. Jeder initiierte Wandel hat einerseits zur Folge, dass etwas anderes nicht geschehen kann, aber andererseits auch, dass etwas an seinem Selbst nicht mehr werden kann – dass etwas nicht ins Sein kommen kann – oder aber auch einfach „anders“ ins Sein kommt – reifer, stimmiger, passender. Ist man sich der Folgen eines initiierten Wandel im Klaren und entscheidet sich bewusst dafür, kann die schamanisch praktizierende Person dem Gestalt geben – Erschaffen, zum Wohle wandeln.

2. Gestalt geben

Ægishjálmur, Galdrakver, ~1670
Drei Frauen, Roc-aux-Sorciers, 15.000 v.u.Z.
Buchcover Göttin Holle

Gestalt geben bedeutet etwas zum Leben zu erwecken – den verknoteten Faden zu entwirren, ordentlich zu verweben und Leben einzuhauchen – das Chaos auflösen, neu bewerten und manifestieren – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – oder aber auch tatsächlich neue Materie zu erschaffen.

Der europäische Mythenschatz erzählt von matrifokalen Sozialverhalten und deren Anbetung einer großen Muttergöttin, die sich in den späteren GRIMM-Erzählungen als Frau Holle (Hulda, Holde, Freyja, Percht …) zeigt. Sie ist die Erdenmutter und Unterweltgöttin, verkörpert Fruchtbarkeit, beherrscht die Kunst des Ackerbaus und praktiziert Magie. Spinnend sitzt sie vor ihrem Haus und empfängt Suchende freundlich in ihrem Mutterschoß.

„Wenn sie Brot bäckt, flammt der Himmel rot; wenn sie Suppe kocht, dampft es am Berg; wenn sie Wäsche wäscht, regnet es; wenn sie Fäden spinnt, kommt der Altweibersommer; wenn sie die Betten schüttelt, schneit es.“7

Diese praktischen Tätigkeiten zeigen mehr als nur Haushaltsarbeit, sie sind Abbild magischer Handlungen, ziehen sich durch den Wandel eines ganzen Jahres und lassen Rückschlüsse auf alte Initiationsriten zu. Die spinnende/webende Frau Holle ist nicht nur ein Archetyp der UrMutter, sondern auch der Dreifaltigen Schicksalsgöttin. Sie spinnt den Lebensfaden und trennt ihn auch wieder. Sie ist der Ursprung der griechischen Moiren, der römischen Parzen, der nordeuropäischen Nornen, der mitteleuropäischen drei Bethen oder drei Matronen.

Die dreifache Göttin wird laut Heide GÖTTNER-ABENDROTH auch in drei Farben dargestellt8:

Weiß – Holle als Frühlingsgöttin – die Jungfrau – Geburt, Neubeginn, Jugend
Rot – Holle als Liebesgöttin – die Mutter – Fruchtbarkeit, Sexualität, Wachstum
Schwarz – Holle als Todesgöttin – die Alte – Weisheit, Ruhe, Tod

Die Farbe Rot hat aber auch eine weitere tiefe spirituelle Bedeutung und stellt eine Verbindung zum heiligen Blut her. Rot wird seit der Steinzeit im Kontext magisch schamanischer Riten benutzt. Zu sehen, noch heute, an den Felswänden prähistorischer heiliger Stätten, als Abbilder längst vergangener Kulturen und Bräuche, tief in des UrMutter Bauch, oder an magische Gegenstände, die man als Grabbeigaben fand.9

Gestalt geben, Leben geben, Leben einhauchen, besingen oder beschreien ist ein weiteres Element um zu wandeln. Der Zaubergesang oder der Zauberspruch (ig. galdra, galdraz). Beschrieben wird so ein galdra beispielsweise in der Eiríks saga rauða (Saga von Erik dem Roten, Isländersagas, 14. Jh.) anhand einer schamanischen Séance der Seherin Þórbjörg lítilvölva (Thorbjörg, die kleine Seherin). Weitere Belege für einen galdra sind die Merseburger Zaubersprüche, der altenglische Neukräutersegen, der Wurmsegen oder der Hexenstichsegen. Die Galdrastafir (galdra = Zauber / stafur = Stab), aus der isländischen Volksmagie (15.-16. Jh.), sind heute noch beliebte Zauberzeichen.

In heilige Ekstase versetzt blicken schamanisch Praktizierende hinter den Schleier der Natur, entwirrend den verknoteten Faden der kosmischen All-Einheit, verweben ihn neu, röten, was sichtbar werden muss – wandeln zum Wohle, Unsichtbares sichtbar machen.

3. Heilung ist immer auch eine globale Angelegenheit

Freyja und Svipdag, John Bauer, 1911
Mein hängender Ahnenaltar, 2023
Ganggrab Newgrange, Grafschaft Meath,
Photo: John Donohoe

Zum Wohle zu wandeln, sollte über viele Generationen passieren. Muster, die von einer zur nächsten Generation weiter gereicht wurden, können eine Person im diesseitigen Dasein psychisch (und unweigerlich dann auch physisch) belasten.

Eine innerfamiliäre Ahnenreise kann ein großartiges Aha-Erlebnis sein, die Verbindung mit unseren Vorfahren stärken und negative gelebte Muster auflösen, was essenziell der Ganzwerdung dient.

Bei unseren nordeuropäischen Vorfahren finden auch Belege für Kontaktaufnahmen mit Verstorbenen. Das Zauberlied der Groa aus der Edda (Grogaldr) erzählt vom jungen Helden Swipdagr (Der plötzlich hereinbrechende Tag) der Rat von seiner verstorbenen Mutter Groa (wachsen) holt. Er bittet um Hilfe um das Mädchen Mengloð (Die sich über Schmuck freuende – gloð = Glut = Sonne?) zu erobern. Seine verstorbene Mutter nennt ihm mehrer Zaubersprüche.11

So gibt es aber nicht nur die innerfamiliäre Ahnenheilung, sondern auch eine global gesellschaftliche Generationsheilung. Laut meiner bisherigen Erkenntnisse hat jede Generation, als Gemeinschaft, Aufgaben zu meistern, um den Fortbestand der menschlichen Spezies zu sichern. Von meinem Standpunkt aus gesehen, war das Thema der Generation meiner Uroma „Verteidigung“, das meiner Oma „Aufbau“, das meiner Mutter „Erhalt“ und der Zuständigkeitsbereich meiner Generation wäre „Heilung“. Heilung von all den verletzten (unsichtbaren) Anteilen, die über Generationen unsere Psyche schwer belasten.

Der wissenschaftliche Begriff für die transgenerationale Weitergabe lautet epigenetische Vererbung. Diese wird im Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München erforscht. Die Forschenden konnten feststellen, dass Verletzungen der Eltern an ihre Kinder weitergegeben werden und die Kinder das Leid der Eltern als ihr eigenes Leid erleben würden, auch wenn nicht darüber gesprochen wird11 Zur epigenetischen Vererbung gibt noch unzählige weitere Forschungsergebnisse, die aber alle zum gleichen Schluss kommen, dass traumatischen Erlebnissen weiter vererbt werden und zu späteren psychosomatischen Erkrankungen führt.

Schon der Psychoanalytiker C. G. JUNG beschrieb damals ein kollektives Unterbewusstsein, das die Erfahrungen der gesamten Menschheitsfamilie gespeichert und jede Generation prägt.12 Die Traumata unserer Vorfahren wirken in uns weiter. Die Wissenschaft kann diese Prozesse immer besser erklären.

Es ist so wichtig, sich der Ahnenheilung zu widmen. Setzten wir, als Menschheitsfamilie, da nicht an, wird sich das Rad wiederholen und die künftige Generation, deren Thema die Vernetzung ist, entweder wieder in der Verteidigung verankern, oder aber Leid und Traumata mit dem Schicksalsgewebe der Menschheitsfamilie vernetzen.

  1. Köbler G.: Germanisches Wörterbuch, (5. Auflage), 2014 LINK
  2. Simek R.: „Lexikon der germanischen Mythologie“, Alfred Körner Verlag Stuttgart, 1995
  3. Köbler G.: Altnordisches Wörterbuch, (4. Auflage), 2014 LINK
  4. Die Edda des Snorri Sturluson: Gylfis Täuschung, Übersetzt Arnulf Krause, Reclam, 1997
  5. Die Götterlieder der Älteren Edda: Hávamál, Die Sprüche des Hohen, Übersetzt Arnulf Krause, Reclam, 2006
  6. Simek R.: „Lexikon der germanischen Mythologie“, Alfred Körner Verlag Stuttgart, 1995
  7. Göttner-Abendroth H.: „Das Feenvolk der Dolomiten: Die großen Göttinnenmythen Mitteleuropas und der Alpen neu erzählt“, Ulrike Helmer Verlag, 2005
  8. Göttner-Abendroth H.: „Die mythische Gestalt der Frau Holle in kulturgeschichtlicher Deutung“, Vortrag auf dem Meißner, im „Naturpark Frau Holle-Land“, am 12. Oktober 2017
  9. Braem Harald: „Die magische Welt der Schamanen und Höhlenmaler“, Dumont Buchverlag, 1994
  10. Köbler G.: Germanisches Wörterbuch, (5. Auflage), 2014 LINK
  11. Die Edda des Snorri Sturluson: Zum Zauberlied der Groa, Übersetzt Arnulf Krause, Reclam, 1997
  12. Department Genes and Environment, BINDER LAB, Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München LINK
  13. Stangl, W.: „Unterbewusstsein“, Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik LINK
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